Arbeitslosigkeit, Lücken in der sozialen Absicherung und Druck auf die Einkommen haben in der Geschichte immer wieder dazu geführt, dass Projekte für ein bedingungsloses Grundeinkommen diskutiert wurden. Letztmals hatte das Thema in den 1990er Jahren Auftrieb, als die Arbeitslosigkeit in der Schweiz einen Höchststand erreichte. Mit der heutigen Medienkonferenz zu einer Volksinitiative wird das bedingungslose Grundeinkommen in der Schweiz wieder aktuell. Eine Analyse des Konzeptes zeigt jedoch, dass die Realisierung eines bedingungslosen Grundeinkommens mit grossen Schwierigkeiten und sozialen Kosten verbunden sein dürfte.
Jüngste Initiativprojekte sind:
- Eine Initiative für ein Grundeinkommen – finanziert durch eine Energielenkungsabgabe – ist nicht zustande gekommen (Sammelbeginn am 19.5.2010).
- Am 21. April 2012 will eine „Agentur zum Grundeinkommen“ eine neue Volksinitiative lancieren. Diese will, dass alle EinwohnerInnen bedingungslos ein Einkommen erhalten, welches ein menschenwürdiges Dasein ermöglicht.
Art. 110a (neu) Bedingungsloses Grundeinkommen
1 Der Bund sorgt für die Einführung eines bedingungslosen Grundeinkommens.
2 Das Grundeinkommen soll der ganzen Bevölkerung ein menschenwürdiges Dasein und die Teilnahme am öffentlichen Leben ermöglichen.
3 Das Gesetz regelt insbesondere die Finanzierung und die Höhe des Grundeinkommens.
Dieses Grundeinkommen soll unabhängig von Bedürftigkeit und Gegenleistung ausbezahlt werden. Der neue Art. 110a käme allerdings zusätzlich zur AHV und den anderen Sozialversicherungen in die Verfassung. Damit würden diese erhalten bleiben. Das Grundeinkommen soll rund 2200-2500 Fr. für Erwachsene bzw. die Hälfte für Kinder betragen.[1] Finanziert werden soll das Grundeinkommen über eine „Besteuerung des Verbrauchs von Waren, Dienstleistungen und Ressourcen sowie der Finanzwirtschaft“ – namentlich über eine Erhöhung der Mehrwertsteuer.
Soziale Auswirkungen
Damit das Einkommen einigermassen zum Leben reicht, braucht es brutto mindestens 4000 Fr./Mt. Mit einem Grundeinkommen von 2200-2500 Fr./Mt. für eine erwachsene Person ist niemandem geholfen. Dieser Betrag ist zu tief, als dass man davon leben kann. Mit diesem Einkommen ist man arm. Immerhin würde diese Sicherung des Existenzminimums aber bedarfsunabhängig ausgerichtet werden, was den Betroffenen die entwürdigende Abklärung ihres Bedarfs verhindern würde.
Einige Befürworter des bedingungslosen Grundeinkommens (BGE) wollen ausser dem BGE keine weiteren staatlichen Sozialleistungen mehr zulassen. Das Grundeinkommen müsste nach diesen Meinungen die Leistungen der Sozialversicherungen ablösen. Für diese Leistungen müsste individuell und privat vorgesorgt werden. Vielen bedürftigen Personen ginge es schlechter als heute. Eine 80-jährige, verwitwete Frau müsste plötzlich Arbeit suchen, um über die Runden zu kommen, weil sie keine Ergänzungsleistungen mehr bekommt. Wie die im April 2012 lancierte Initiative zum System der Sozialversicherungen steht, ist unklar und wird im Initiativtext nicht ausgeführt. Der neue Art. 110a käme jedoch zusätzlich zur AHV und den anderen Sozialversicherungen in die Verfassung. Insgesamt würde das das Projekt sozialer machen. Doch gleichzeitig würde es noch mehr kosten und es würde sehr kompliziert, weil neben dem System des Grundeinkommens parallel noch ein Sozialversicherungssystem betrieben würde.
Der schweizerische Sozialstaat ist geprägt von einem Geflecht von Sozialwerken, namentlich von Sozialversicherungen, welche die wesentlichen sozialen Risiken des Lebens abdecken. Eine AHV-Rentnerin wird als Altersrentnerin und nicht als Arbeitslose betrachtet. Umgekehrt haben Arbeitslose über die ALV Möglichkeiten der Aus- und Weiterbildung. Die Sozialversicherungen stellen sicher, dass alle Personen, welche wegen einem eingetroffenen Risiko (z.B. Alter, Krankheit, Unfall, Arbeitslosigkeit) nicht mehr in der Lage sind für ihren Lebensunterhalt aufzukommen, ihren Lebensstandard trotzdem in angemessener Weise halten können. Dafür ist ein risikogerechtes Finanzierungssystem geschaffen worden, welches auf die Solidarität zwischen den von den jeweiligen Risiken nicht betroffenen Personen und den von Risiko Betroffenen (jung zu alt; erwerbstätig zu arbeitslos; gesund zu invalid) beruht. Allerdings weist das System Lücken auf (Krankentaggeld, Einkommensersatz bei Langzeitarbeitslosigkeit u.a.).
Hinter dem Grundeinkommen steckt hingegen die Idee einer Existenzsicherung. Die Absicherung des Lebensstandards wird der privaten Vorsorge überlassen. Für Personen mit wenig Einkommen bedeutet dies, dass sie beim Eintreffen von Lebensrisiken einzig auf das Grundeinkommen zurückgreifen können. Also auf die Sicherung des Überlebens. Ein starker Rückschritt gegenüber dem heutigen Sozialstaat. Der heutige Versicherungscharakter der Sozialversicherungen gewährleistet Rechtsansprüche. Diese Rechtsansprüche würden durch das Grundeinkommen geschwächt.
Einige Befürworter des BGE bringen ein, dass damit eine „Sozial-Bürokratie“ eingespart werden könnte, welche die Rentenansprüche prüft. Effektiv dürfte das unmittelbare Einsparpotential sehr gering ausfallen. Die kostenträchtigen Aufgaben wie etwa Rehabilitationen nach Unfällen, Aus- und Weiterbildungen, Arbeitsvermittlungen würden durch das BGE ja nicht überflüssig. Doch die Gefahr ist gross, dass sie nur noch Personen zur Verfügung stehen, die diese privat bezahlen können.
Das BGE käme laut den Initianten der ganzen Bevölkerung zugute. Das heisst, alle Personen, welche ihren Wohnsitz in der Schweiz haben, hätten Anspruch auf das BGE. Die Frage der Anspruchsberechtigten ist jedoch alles andere als trivial. Was erhalten SchweizerInnen, die ins Ausland ziehen? Was ist mit AusländerInnen, die neu in die Schweiz einwandern? Im Sozialversicherungssystem ist die Anspruchsberechtigung dank seiner Ausgestaltung als Versicherung klar. Wer versichert ist, etwa weil er erwerbstätig ist, hat Anspruch auf eine Leistung unabhängig von seiner Staatsangehörigkeit. Die Leistungen können sogar ins Ausland exportiert werden, ausser es handelt sich um eine Bedarfsleistung wie die EL oder die Sozialhilfe. Beim BGE würde die Anknüpfung an den Wohnsitz wohl unwiderruflich zu ausländerrechtlichen Verschärfungen führen, um den Kreis der Ansässigen nicht allzu gross zu definieren. Die Abgrenzung zwischen den anspruchsberechtigten Ansässigen und den Auswärtigen würde die Abschottung der Schweiz begünstigen und stünde dadurch im Widerspruch zu einer offenen Gesellschaft. In einem Staat mit durchlässigen Grenzen lässt sich der soziale Schutz daher weit einfacher als Versicherungssystem legitimieren. Das Grundeinkommen könnte folglich mit Sicherheit nicht bedingungslos bezahlt werden, sondern die Auszahlung müsste an Bedingungen geknüpft sein. Die Bedingungslosigkeit ist leider eine Illusion.
Wirtschaftliche Auswirkungen
Jedem und jeder unabhängig von der Erwerbssituation 2200 Fr./Mt. zu geben, wird teuer. In der Schweiz lebten im Jahr 2010 6.3 Mio. Erwachsene und 1.6 Mio. Kinder und Jugendliche. Erhalten diese pro Monat 2200 Fr. (Erwachsene) bzw. 1100 Fr. (Kinder und Jugendliche), so ergibt das insgesamt 186 Mrd. Fr. Die Ausgaben von AHV, IV, Ergänzungsleistungen, EO, ALV und KV-Prämienverbilligungen belaufen sich heute auf rund 50 Mrd. Fr. Ein Teil dieser Ausgaben würde durch das Grundeinkommen ersetzt. Konservativ geschätzt würde das etwas über 200 Mrd. Fr. kosten. Unter der vereinfachenden Annahme, dass das Konsumverhalten unverändert bleibt, würde eine volle Finanzierung über die MWSt einen MWSt-Satz von rund 70 Prozent nötig machen.
Solche MWSt-Sätze würden zu einer noch nie dagewesenen Flucht in die Schwarzarbeit führen. Die damit verbundenen Steuerausfälle würden weitere Satzerhöhungen notwendig machen, so dass das BGE wohl aufgrund von Finanzierungsproblemen kollabieren würde.
Die Finanzierung über die MWSt hätte eine Umverteilung von unten nach oben zur Folge. Die tiefen Einkommen müssen mithelfen, das Grundeinkommen der Reichen zu finanzieren.
Ein etwas weniger extremer Finanzierungsvorschlag ist das „Verrechnungsmodell“[2]. Bei diesem werden die ersten z.B. 2200 Fr. Lohn/Mt. in eine zentrale Kasse - z.B. in die AHV - einbezahlt. Aus dieser Kasse erhalten alle auch das BGE (z.B. 2200 Fr./Mt.) ausbezahlt. Die Differenz zwischen den Gesamtausgaben, den eingesparten Sozialversicherungsleistungen und den gesamten Einnahmen aus diesen Zahlungen („Finanzierungslücke“) wird z.B. über die MWSt finanziert. Diese Differenz beträgt je nach eingesparten Sozialversicherungsleistungen 20 bis 50 Mrd. Fr. Weil bei einem solchen Modell weniger über die MWSt finanziert wird, dürfte das Schwarzarbeitsproblem etwas geringer sein. Doch darf es auch hier nicht unterschätzt werden. Denn es werden auf dem Lohn dennoch 2200 Fr./Mt. in die Verrechnungsstelle einbezahlt. Bei Tieflöhnen bedeutet das einen Abgabesatz von über 50 Prozent. Dazu kommen Sozialversicherungsbeiträge für die Absicherung des Lohnes über 2200 Fr./Mt. sowie Einkommenssteuern. Total ergäbe das für viele Arbeitnehmende einen Steuersatz von wesentlich über 50 Prozent. Da sind die Anreize gross, schwarz zu arbeiten und dazu noch das BGE zu erhalten.
Weil das Grundeinkommen von 2200 Fr./Mt. nicht zum Leben reicht, werden fast alle Erwerbstätigen auch in Zukunft erwerbstätig sein müssen. Dazu kommen – wenn Renten- oder EL-Leistungen abgebaut werden – AHV-RentnerInnen, die ebenfalls auf Jobsuche sein werden. Das wird zu einem Druck auf die Löhne führen. Denn die Konkurrenz unter den Stellensuchenden auf dem Arbeitsmarkt hat zur Folge, dass die Differenz zwischen ihrem Lebensbedarf und dem Grundeinkommen schlechter entlöhnt wird. Man wird weiterhin 40h pro Woche arbeiten müssen, aber zu einem weit schlechteren Lohn. Das zeigte sich beim natürlichen Experiment des Grundeinkommens – dem Speenhamland-System in England Ende des 18. Jh. Die öffentliche Hand zahlte den armen Landarbeitern einen Betrag, der sich am Brotpreis orientierte. Der Effekt war, dass in der Folge die Löhne sanken, so dass die Betroffenen trotz Grundeinkommen dennoch nicht mehr zum Leben hatten.
Politischer Hintergrund
Die Befürworter eines BGE sind eine heterogene Gruppe. Unter ihnen befinden sich zahlreiche Wirtschaftsliberale und Arbeitgeber. Der Hamburger Wirtschaftsprofessor Straubhaar träumt beispielsweise in einer Studie zum BGE von einem vollkommen flexiblen Arbeitsmarkt, in welchem die Beschäftigung im Niedriglohnsektor aufgrund von viel tieferen Löhnen stark zunehmen wird. Mit einem solchen BGE gäbe es keine „unfreiwillige Arbeitslosigkeit“ mehr. Gleichzeitig müssten viele Pensionierte, die in ihrer Erwerbsphase wenig für die Altersvorsoge sparen konnten, wieder eine Stelle suchen. Das flexible Rentenalter gegen oben würde durch die Hintertüre eingeführt. Die NZZ am Sonntag schreibt denn auch am 11. März 2011: „Effizienz, Transparenz und Gerechtigkeit verspricht der Gesellschaftsentwurf «Grundeinkommen», denn die auf die Überalterung zusteuernden Rentensysteme würden ebenso obsolet wie die bürokratischen Arbeitslosenversicherungen und die obrigkeitlichen Sozialämter.“
Unter den gegenwärtigen politischen Kräfteverhältnissen ist die Gefahr sehr gross, dass ein Grundeinkommen zu starkem Sozialabbau führt. Würde ein Grundeinkommen eingeführt, würden die staatlichen Sozialleistungen wohl auf ein Minimum reduziert. Die Vorsorge wäre vermehrt individuell und privat.
Andere gewerkschaftliche Prioritäten
Die Gewerkschaften setzen sich für gute Löhne, tiefe Arbeitslosigkeit, echte soziale Sicherheit und Umverteilung von oben nach unten ein. Diese Ziele lassen sich durch ein BGE nicht oder nur schlecht realisieren. Im Gegenteil besteht die Gefahr, dass sich die Lage der tiefen und mittleren Einkommen verschlechtert. Die Gewerkschaften setzen deshalb auf Mindestlöhne und auf leistungsfähige, gerecht finanzierte Sozialversicherungen. Wie beispielsweise auf die Mindestlohninitiative.
[1] Häni/Schmidt (2010): Die Finanzierung des Grundeinkommens, in Bien Schweiz (Hg.): Die Finanzierung eines bedingungslo- sen Grundeinkommens.
Auf der Webseite www.grundeinkommen.ch ist neuerdings von 2500 Fr. die Rede.
[2] Jörimann (2010): Das Verrechnungsmodell (Clearing-Model), in Bien Schweiz (Hg.): Die Finanzierung eines bedingungslo- sen Grundeinkommens.