Offizielle Einkommensstatistiken unterschätzen Ungleichheit - Resultate einer neuen Studie
Gastblog von David Gallusser:
Ist die Einkommens-Ungleichheit in der Schweiz gestiegen? Je nach Quelle, die man ins Feld führt, kommt man zu unterschiedlichen Schlüssen. Oft (NZZ, SRG u.a.) werden die Haushaltsumfragen des Bundesamtes für Statistik verwendet. Gemäss dieser Haushaltsbudgeterhebung (HABE) oder dem Survey on Income and Living Conditions (SILC) hat die Ungleichheit nicht zugenommen. Nimmt man hingegen die Steuerdaten zur Hand, beobachtet man eine wachsende Kluft zwischen oben und unten.
Grundsätzlich sind die Steuerdaten genauer. In ihnen ist die ganze Bevölkerung abgebildet, da alle Erwachsenen steuerpflichtig sind und veranlagt werden. Die Umfragen basieren dagegen auf Stichproben. Im Fall der HABE werden jährlich nur rund 3000 bis 4000 Haushalte befragt. Das wäre kein Problem, wenn alle Einkommen mit gleicher Wahrscheinlichkeit in dieser Stichprobe vertreten wären. Leider geben aber tiefe und hohe Einkommen viel seltener Auskunft. Die Umfragen geben deshalb der Mittelschicht ein zu hohes Gewicht – und verzerren die tatsächliche Verteilung.
Forscher des nationalen Forschungsprojekts zur Ungleichheit haben nun untersucht, wie gross diese Verzerrung bei der HABE ist (Oliver Hümbelin und Rudolf Farys, „Suitability of Tax Data to Study Trends in Inequality“). Um Äpfel mit Äpfeln zu vergleichen, habe sie die Einkommens- und Haushaltsdefinitionen den Steuer- und Umfragedaten vereinheitlicht. Das Resultat:
- Die obere Mittelschicht ist in der HABE deutlich übervertreten. Die Einkommen unter dem Median (unterste 50%) sind genauso unterrepräsentiert wie die reichsten 5%
- Dadurch wird im Kanton Bern, für den sie die ganze Bevölkerung vergleichen konnten, die Ungleichheit (bei den Primäreinkommen) um 0.05 Gini-Punkte zu tief eingeschätzt.
- Für die Ungleichheit (bei den steuerbaren Einkommen) zwischen den verheirateten Paaren in der ganzen Schweiz ist der Unterschied gar um 0.19 Gini-Punkte zu tief.
Zum Vergleich: Die Einkommen in den sehr ungleichen USA sind um „nur“ 0.14 Gini-Punkte ungleicher verteilt als im relativ gleichen Norwegen!
Die Obere-Mittelschichts-Verzerrung führt dazu, dass die Haushalts-Daten auch die Entwicklung der Ungleichheit sehr wahrscheinlich falsch wiedergeben. Im letzten Jahrzehnt sind nämlich vor allem die höchsten Einkommen gestiegen. Sie haben damit gerade auch die obere Mittelschicht deutlich abgehängt. Sie nicht sauber abzubilden, unterschätzt den Anstieg der Ungleichheit. Gleichzeitig sind die Löhne unter dem Median weniger stark gestiegen als über dem Median und die Renten hinken den Löhnen hinterher. Da sowohl Arbeitnehmende mit tiefen Löhnen als auch viele RentnerInnen zu den untersten 50% gehören, wird mit den Umfragedaten ein zu rosiges Bild gemalt.