Liest die NZZ nur die Zusammenfassung der Studien? Zum heutigen Artikel über Mindestlöhne
Gastblog von Daniel Kopp:
Sind dezentrale Lohnverhandlungen wirklich eine gute Lösung? Der NZZ-Artikel „Futter für die Lohndebatte“ beruft sich auf eine Studie vierer Deutscher ProfessorInnen zu den Gründen für die Zunahme der deutschen Wettbewerbsfähigkeit im internationalen Vergleich und suggeriert, diese sei vornehmlich auf Lohnzurückhaltung zurückzuführen. Hauptgrund für die Lohnzurückhaltung wiederum seien dezentrale Lohnverhandlungen.
Wer die Studie genau liest (und nicht nur das Fazit), merkt indes, dass diese Darstellung reichlich einseitig ist und wichtige Faktoren ausblendet:
Interessanterweise sind die Reallöhne im Sektor mit nicht-handelbaren Gütern stark und im Sektor mit handelbaren Dienstleistungen schwach gesunken, während sie im Exportsektor, der für die Wettbewerbsfähigkeit verantwortlich ist, deutlich gestiegen sind.
Dies spricht gegen die Hypothese, dass Lohnzurückhaltung der Hauptgrund für die gestiegene Wettbewerbsfähigkeit des Deutschen Exportsektors war. Die Studienautoren weisen jedoch darauf hin, dass das Endprodukt im Exportsektor einen grossen Anteil an Vorleistungen enthält, der seit 1995 gestiegen ist. Der Exportsektor könnte somit über günstigere Vorleistungen von der Lohnzurückhaltung in den anderen Sektoren profitiert haben. Allerdings zeigen die Autoren, dass der höhere Anteil der Vorleistungen am Endprodukt auf eine Zunahme günstiger Importe aus dem Ausland zurückzuführen ist. Vor allem aus Osteuropa hat die Deutsche Industrie zunehmend Vorleistungen importiert – deutlich mehr als andere europäische Wettbewerber. Der günstigere Einkauf aus dem Ausland war somit ein Grund für die Senkung der Lohnstückkosten. Weil dennoch weiterhin ein Grossteil der Vorleistungen des Exportsektors aus Deutschland kommen, gehen die Autoren davon aus, dass der Rückgang der Reallöhne in den anderen inländischen Sektoren auch eine Rolle für die gesunkenen Lohnstückkosten gespielt hat. Ausserdem weisen die Autoren auf einen weiteren wichtigen Faktor hin: Die Produktivität im deutschen Exportsektor ist stark gewachsten – deutlich stärker als in anderen Sektoren (Vgl. S. 173) und auch stärker als die Löhne im Exportsektor (175/176).
Das heisst, dass die gesunkenen Lohnstückkosten verschiedene Ursachen haben: Ein deutliches Produktivitätswachstum, vermehrter Zukauf von günstigen Vorleistungsgütern aus dem Ausland (v.a. Osteuropa) sowie der günstigere Erwerb von Vorleistungsgütern aus dem Inland, die teilweise auf das gesunkene Lohnniveau in diesen Sektoren zurückzuführen sind.
Angesichts dieser unterschiedlichen Faktoren, welche die gestiegene Wettbewerbsfähigkeit des Deutschen Exportsektors erklären, verwundert es, dass die Autoren ausschliesslich auf die gesunkenen Reallöhne abstellen, welche sie mit der Zunahme der dezentralen Lohnfestsetzung seit 1990 erklären.
Der Versuch die von den Studienautoren propagierten dezentralen Lohnfestsetzungsmechanismen in Deutschland gegen die Mindestlohninitiative des SGB ins Feld zu führen, wirken bei genauerem Hinsehen somit reichlich hilflos. Ausserdem muss man sich die Frage stellen, ob wir in der Schweiz wirklich denselben Weg beschreiten wollen wie Deutschland:
Die Reallöhne der unteren 15 Prozent sind seit 1990 massiv gesunken (um beinahe 10 Prozent). Selbst der mittlere Lohn ist seit 2003 gesunken. Hier eine Grafik aus der oben genannten Studie.
Über die Hälfte der Deutschen Arbeitnehmenden hat am sogenannten ‚Wirtschaftswunder‘ schlicht nicht teilgehabt. Sie haben heute real sogar weniger im Portemonnaie als vor zehn Jahren. Die Lohnungleichheit hat massiv zugenommen. In diesen Tagen wurde vermeldet, dass sich in Deutschland der Anteil der Menschen, die neben ihrer Haupttätigkeit noch etwas hinzuverdienen müssen, in den vergangenen zehn Jahren verdoppelt hat – auf 2.6 Millionen Beschäftigte.
Soll uns das wirklich als Rollenmodell dienen?